Als Mönch innerhalb einer Waldklostertradition wird man bisweilen mit höchst ungewöhnlichen Situationen konfrontiert, sobald man sich einmal aus der vertrauten Umgebung eines Waldklosters hinauswagt. Vor allem in der westlichen Welt ist das in schöner Regelmäßigkeit ein Thema.
Zum Abschluss dieses für mich abwechslungsreichen Jahres war es mir vergönnt, eine bereits lange ausstehende Einladung anzunehmen, und zwar zu einer Wanderung in die marokkanische Wüste. Barbara und Isabel offerierten die materiellen Voraussetzungen für diese Reise, und Isabels marokkanischer Ehemann Brahim übernahm vor Ort die Vorbereitungen für eine ungewöhnlich große Wüstenkarawane. Unter Isabels und Brahims Führung gingen 18 Teilnehmende, sieben Berber-Nomaden und 21 Dromedare auf eine siebentägige Wanderung durch ein Wüstengebiet südlich des Hohen Atlas.
Für die meisten der Teilnehmenden war es das erste Mal, sich in eine so ungewohnte Umgebung zu begeben. Was aber die Gruppe vereinte, war das Bedürfnis, einmal tief in die Stille der Wüste eintauchen zu dürfen, völlig jenseits des alltäglichen Bombardements der Sinneseindrücke. Was diesen Eindruck der Stille noch zusätzlich unterstützen sollte, war die Abmachung unter den Wanderern, jeden Tag schweigend zu verbringen, und zwar jeweils bis zur Teezeit am späten Nachmittag.
Dieses Eintauchen in die Stille geschah dann auch gleich unmittelbar am ersten Tag. Unmöglich, sich der alles durchdringenden Stille, der Weite der Umgebung und vor allem nachts dem unermesslichen Sternenhimmel zu entziehen. Fast ein wenig überwältigend war diese vollkomenen Abwesenheit der gewohnten Objekte für die Sinne. Das eigene Wahrnehmungsspektrum musste sich vollkommen neu orientieren, ehe sich neue, subtilere Formen der Wahnehmung einstellen konnten. Zum Beispiel auf eine Weise, wie Saint-Exupérys kleiner Prinz es mal so treffend ausdrückte: „Man sitzt auf einer Sanddüne, man sieht nichts, man hört nichts – doch etwas leuchtet in der Stille.“
Oder man sieht doch etwas, wie zum Beispiel den unbegrenzten, konturlosen Himmel, der vor allem am frühen Morgen und nach Sonnenuntergang in den unglaublichsten Farben schimmert. Oder man betrachtet die zahllosen Wellen der Sanddünen, die den Blick in die Endlosigkeit leiten. Oder aber man lauscht einfach in die Stille hinein, die automatisch dahin führt, in sich selbst hinein zu lauschen. Auftauchende Gedanken scheinen gegenüber dieser stillen Macht keinen Bestand zu haben. Sie lösen sich schnell und was bleibt ist vielleicht der „sound of silence“, den Ajahn Sumedho oft in seinen Dhamma-Vorträgen beschrieben und als Sammlungsübung angeleitet hat.
Wie dem auch sei, niemand kann sich der Wirkungen entziehen, die die Wüste auf uns Menschen ausübt. Meditation im Sinne der Innenschau geschieht in einer solchen Umgebung ganz natürlich, ohne dass zusätzlich willentliche Energie aufgewendet werden müsste. Was man dann damit macht, ob auch die Einsicht bzw. Weisheit ihren Platz inmitten dieser viel versprechenden Umgebung findet, das bleibt jedem Einzelnen überlassen. Die immense Ruhe und Stille, die sich im Laufe der Tage zunehmend vertieft, kann allerdings die innere Atmosphäre für ein Ergründen des eigenen Herzens vorbereiten, worin sowohl dessen Hintergrund als auch die mentalen Eindrücke, die vor diesem Hintergrund erscheinen, immer klarer hervortreten. Man bekommt quasi kostenlos die Chance angeboten, das klar bewusste, erkennende Herz von den Impressionen zu unterscheiden, die dieses Herz vorübergehend besuchen. Sich mit diesem erkennenden Aspekt des Geistes zu verbinden geschieht also viel müheloser als im normalen Alltagsleben, da die im Geist aufsteigenden Eindrücke sowohl deutlicher erkannt, als auch aufgrund mangelnder äußerer Reize in ihrer Häufigkeit reduziert werden. Das Ergebnis davon ist, dass die den Tag durchziehende innere Grundbefindlichkeit von einer tiefen inneren Ruhe, einer heiteren Gelassenheit und einer Freude an den simplen Wahrnehmungen geprägt ist, die die Wüste bereitstellt.
Um aber nicht allzu sehr in wohliger innerer Harmonie zu versinken, bietet die Wüste bisweilen auch Herausforderungen an, zum Beispiel in Form eines Sandsturms. Das ist besonders stimulierend, wenn man sich wie die Mehrzahl der Wanderer dafür entschieden hat, die Nächte unter freiem Himmel zu verbringen. Mitten in der letzten Nacht draußen auf den Dünen wurde ich von tosenden, sandigen Windböen geweckt, die meinen Schlafplatz unter dem Himmelszelt schnell mit einer dicken Sandschicht bedeckten. Noch schlaftrunken erkennt man in den ersten Momenten den Ernst der Lage nicht, denn die Sichtweite hat sich seit dem Einschlafen völlig verändert. Statt Millionen von Kilometern hinaus ins Weltall zu blicken, hat sich die Perpektive auf kaum ein paar Meter verengt. Wenn dann in einem Anflug von Panik nach der Stirnlampe gesucht wird, um überhaupt irgendetwas zu sehen, ist die Botschaft angekommen. Schnell das Nötigste zusammenraffen und nichts wie weg in Richtung Zeltlager, wo hoffentlich Schutz geboten wird vor den Elementen. Trotz Lampe habe ich nach einigen Minuten die Orientierung verloren, sehe aber dann plötzlich ein Licht mitten im Nichts, auf das ich sofort zielstrebig zugehe. Es gehört meinem Mönchsfreund Tan Leif, der ebenfalls fluchtartig sein Nachtlager verlassen hat. Da er sich näher am Lager befand, weiß er aber genau wo es lang geht und befreit mich von meiner Desorientierung. Im Zeltlager, wo einige der Nomaden schlafen, ist bei unserer Ankunft noch alles dunkel. Erst allmählich tauchen Gestalten aus der Umgebung auf, um zu helfen, Pflöcke in den Boden zu schlagen, die Zeltplanen – die tagsüber aus Ventilationsgründen hochgeklappt waren – daran zu befestigen und dadurch einen Schutzraum im Gruppenzelt zu schaffen. Bei all dem Sand und Wind kein leichtes Unterfangen, aber immer mehr Wüstenwanderer tauchen aus der Dunkelheit von ihren Schlafplätzen auf, um mitzuhelfen. Am Ende sind alle heil im zum Massenlager umfunktionierten Gruppenzelt gelandet. Letzte Namensrufe in die tosende Stille hinein stellen sicher, dass auch wirklich alle da sind, und schon bald tritt Ruhe ein. Zwanzig Wanderer kehren friedlich wieder zurück in den erquickenden Schlafzustand, als wäre alles nur ein irrealer Spuk gewesen.
Diese relativ kurze Phase nächtlicher Aktivitäten war für mich ein überzeugender Beweis für das Zusammenhaltsgefühl und die Kooperationsfähigkeit innerhalb einer Gruppe von 27 Wüstenwanderern, von denen sich die meisten vorher nie begegnet waren. Menschliche Qualitäten traten zutage, die offensichtlich während der Woche des gemeinsamen Wanderns, Schweigens, Redens und Meditierens leise und unaufdringlich gewachsen waren und sich in einer Extremsituation bewähren durften, wo jede/r Einzelne sich wirklich gekümmert hat. Für mich persönlich ein sowohl inspirierender als auch angemessener Abschluss einer Reise in die Stille, mit einem tosenden Crescendo am Ende.