Eigentlich sollte ich in diesem Frühjahr wieder zurück in Kandersteg sein … eigentlich sollte ich Ende April ein Retreat in der Provence anbieten … und eigentlich sollte ich der Einladung einer kleinen Dhamma-Gruppe auf Koriska in der ersten Maiwoche folgen, eigentlich … Aber es kam alles anders, was Millionen von Menschen momentan sehr gut nachempfinden können, die ja eigentlich auch andere Pläne hatten als den Frühlingsanfang in ihrer Wohnung zu verbringen.
Ich befinde mich seit Anfang Dezember in England und habe die Gelegenheit eines ausgedehnten Besuchs dazu benutzt, mich wieder mit der erweiterten Gemeinschaft im Ursprungsland unserer Tradition in der westlichen Welt zu verbinden. Da mein klösterliches Leben hier begann und ich seit 27 Jahren nicht mehr in England gelebt hatte, war dies auch gleichzeitig eine Wiederverbindung mit meiner eigenen „klösterlichen Jugendzeit“: eine Woche in der Devon Vihara, ein Monat in Chithurst (Cittaviveka) und jetzt bereits drei Monate während des Winter-Retreats in Amaravati – Ende offen. Ich wurde in allen Klöstern überaus freundlich, sogar herzlich empfangen und untergebracht. In Amaravati verbrachte ich den Winter in einer Art Bungalow, der ursprünglich zu Ehren von Ajahn Sumedho gebaut wurde, sollte er auf seine alten Tage auf die Idee kommen, wieder mal in England leben zu wollen. In diesem Jahr wollte er sogar ein halbes Jahr in der Aroga Kuti – so heißt dieser Bungalow – verbringen. Sogar ein Mega-Retreat mit ihm und 450 Teilnehmenden war noch im Mai geplant. Aroga bedeutet übrigens wörtlich ‘frei von Krankheit’ oder eben Gesundheit und ist gerade im Moment ein sehr passender Name. Die Kuti ist so konzipiert, dass alternde und pflegebedürftige Mönche dort bequem leben und versorgt werden können. Ich rechne mich zwar zu den Alternden aber noch nicht zu den Pflegebedürftigen, sodass es für mich ein echtes Privileg bedeutet, darin leben zu dürfen.
Da das Kloster Amaravati, so wie viele andere öffentliche Einrichtungen, seine Tore für Besucher und Gäste bis auf weiteres geschlossen hat, bleibt uns gar nichts anderes übrig, als vom Winter-Retreat Modus direkt in den Quarantäne-Modus überzugehen. Was die konkrete Lebensweise der Mönche und Nonnen angeht, besteht da kein so großer Unterschied. Es gibt allerdings auch intern keine Gruppenmeditationen oder sonstige größere Treffen der Gemeinschaft. Die Versorgung des Klosters mit dem Notwendigsten geschieht jetzt vorwiegend in Form von Lebensmittellieferungen per LKW anstelle der normalerweise von Besuchern offerierten Dinge, da es ja immerhin ca. 60 Leute zu versorgen gilt. Dadurch werden zwar die grundlegenden physischen Bedürfnisse abgedeckt, aber es fehlt eindeutig etwas, wenn man mittags zum Buffet im großen Zentrumsraum des Klosters schreitet und sich dort außer den Mönchen und Nonnen kein Mensch befindet. Der tägliche Austausch von Mensch zu Mensch – von Herz zu Herz – ist weggefallen, und das ist für uns klösterliche Menschen mindestens genauso gespenstig wie die verwaisten Innenstädte und Vororte in der restlichen Welt während dieser Zeit.
Seit dem vergangenen Wochenende gibt es allerdings den Versuch, auf der Dhamma-Ebene den Kontakt zur Außenwelt nicht völlig abbrechen zu lassen. Das Kloster Amaravati bietet ab sofort einmal pro Woche Livestreams an mit Vorträgen bzw. Antworten auf vorher schriftlich gestellte Fragen. Der erste Stream mit Ajahn Amaro wurde am vergangenen Sonntag übertragen und kann auch jetzt noch abgerufen werden. Zum Link:
https://vimeo.com/amaravativideo
Eine weitere gute Nachricht betrifft ein Projekt, das ich Ende 2018 begonnen hatte und das im Februar 2020 abgeschlossen wurde, nämlich sämtliche in englischer Sprache verfügbaren Vorträge von Ajahn Chah ins Deutsche zu übersetzen. Meine Aufgabe bestand hauptsächlich in der Korrektur der insgesamt 58 Vorträge, die vorab von einem kompetenten Mann in Deutschland übersetzt wurden. Als nächster Schritt warten wir auf verfügbare freie Zeit eines ungarischen Mönchs in Portugal, der die Vorträge in ein E-Book verwandeln wird. Wir hoffen, dass wir dies spätestens zum Jahresende online frei verfügbar anbieten können. Außerdem sieht es momentan sogar bereits so aus, dass auch eine Druckversion dieser Vorträge nicht lange auf sich warten lassen wird. Vielleicht 2021 …?
Beim Verfassen dieser Zeilen wurde ich auf einen kleinen Beitrag von Mönchsfreund Ajahn Sucitto aufmerksam, der sich übrigens bereits seit 2014 in einer ähnlichen persönliche Lage befindet wie ich seit 2018. Ehemals Abt eines großen englischen Klosters (Cittaviveka) mit einer internationalen Gemeinschaft lebt er jetzt weitgehend unabhängig, unterrichtet Dhamma in vielen Ländern, und trägt durch seine Bücher und Essays auch weiterhin dazu bei, Menschen zur Kontemplation und zur Herzensschulung anzuregen. Ich habe mir die Freiheit genommen, einen höchst aktuellen Artikel von ihm kurzerhand zu übersetzen und diesem Blog anzufügen. Es geht dabei hauptsächlich um einen sehr potenten Anti-Virus, den wir in diesen herausfordernden Zeiten unbedingt aktivieren sollten und auf möglichst viele Wesen übertragen sollten: Der Karuna Virus!
Karuna Virus – Ajahn Sucitto
Die Welt hat sich also verändert, wir haben Ausgangssperre und die Dhamma-Praxis geht mit erhöhtem Fokus weiter. COVID-19 ist soeben einmarschiert.
Wenn gewohnte Strukturen schwächeln oder gar zusammenbrechen, gibt es eine ganze Reihe an Reaktionen darauf. Und genau das ist es, was wir momentan beobachten können. Sich über Klopapier zu streiten ist eine lächerliche Reaktion, aber sich Waffen und Munition zu beschaffen ist da schon eher beängstigender. Wird die Versorgung mit Lebensmitteln weiter bestehen bleiben? Wenn Menschen in Panik geraten, setzen die wildesten Reaktionen ein, die sich vor allem um die eigene Selbsterhaltung drehen. Noch häufiger gibt es den Verlust von Einschätzungen basierend auf der eigenen Vernunft – wir stellen uns vor, dass das System oder die Nation es schon hinkriegt, der Sturm vorübergeht und alles wieder zurückgeht zum Normalzustand. Ich bezweifle es. Unsere Regierungen entwickeln Strategien, während sich die Situation entwickelt (oder sie trivialisieren sie), aber diese Situation könnte sich bis zum Jahresende erstrecken und ihre Auswirkungen noch weit darüber hinaus. Also entstehen Fragen. Dient uns das gegenwärtige ökonomische Modell wirklich am besten? Ist es für das Wohlergehen aller bestimmt? Warum all die Flüchtlinge, Obdachlosen, die Tafeln, die Ungleichheit? Etwas Grundlegendes muss sich ändern bezüglich darauf, wie wir uns um unsere Mitmenschen kümmern, und indem wir zusätzlich weniger horten.
Aber bereits jetzt entstehen positive Zeichen im Hinblick auf Mitgefühl und Teilen. Ein Akt des Vertrauens ist definitiv vonnöten, neben Sinneszügelung und Mitgefühl. Wenn das, was wir zu kennen und zu wissen glauben, zu dem wird, was wir nicht kennen und wissen, kann ein Akt des Vertrauens nur in voller Bewusstheit entstehen: „Da sind wir also – die Zukunft war schon immer etwas Unsicheres und Ungewisses, wir wurden schon seit je krank und starben und waren von denen, die wir lieben, getrennt; also am besten man bleibt gut geerdet und öffnet sich in vollem Gewahrsein dem, was da kommen mag.“ Wenn ausufernde Emotionen und Gedanken durch so eine Vorgehensweise gecheckt werden, dann wird die Panik durch Rücksicht und Anteilnahme für andere ersetzt. Aus dieser Umorientierung vom Ichbezug zum Wohlergehen für das große Ganze bestand der springende Punkt im Erwachensprozess des Buddha:
„Während ich also eifrig, stetig und resolut kontemplierte, entstand ein Gedanke des sinnlichen Verlangens, ein böswilliger Gedanke … ein Gedanke der Grausamkeit in mir. Ich verstand daher: ‘Dieser Gedanke … ist in mir entstanden. Er führt zu meinem eigenen Kummer, dem Leid von anderen und zur Belastung von beiden; er blockiert die Weisheit, verursacht Schwierigkeiten und führt hinweg von Nibbana.’ Als ich in Betracht zog: ‘Dies führt zu meinem eigenen Kummer, verschwand dieser Gedanke in mir.’ Als ich überlegte: ‘Dies führt zum Leid von anderen, verebbte der Gedanke.’ Als ich erwog: ‘Dies führt zu einer Belastung von beiden, legte sich auch dieser Gedanke.’ Und als ich überlegte: ‘Dies blockiert die Weisheit, verursacht Schwierigkeiten und führt hinweg von Nibbana, verschwanden diese Gedanken vollends in mir. (M.19)
Als Menschen, die dem Weg des Erwachens folgen, sollten wir dies im Einklang mit dem Buddha pflegen, der diese ungeschickten Neigungen durch solche ersetzte, die von Verzicht, Freundlichkeit und Mitgefühl geprägt waren. Dies ist im Besonderen dann der Fall, wenn die ‘Himmelsboten’ der Krankheit und des Todes an die Tür klopfen – aber besser noch ehe es zu spät ist. In Panik zu geraten, zu horten und die Schuld auf andere zu schieben bewirkt nichts Gutes, vor allem dann, wenn man selbst an der Reihe ist, dieser Unvermeidlichkeit zu begegnen. Aber ‘die Entstehung von Leid gilt es aufzugeben’, denn dessen Basis besteht aus Unwissenheit und heftigem Verlangen. Gegenüber wem oder was sollten wir weniger unwissend sein? Das Schädliche des materiellen Konsums (= aktiv ermutigte Begierde) ist ein gutes Thema. Und um diese Betrachtung weiterzuführen, eben nur das zu konsumieren, was man benötigt; und immer wieder die angeblich Wunsch erfüllenden und Glück verheißenden Dinge zu überprüfen, die von den Medien entworfen werden: „Brauche ich dies wirklich? Ich war ganz OK bevor dies als Option präsentiert wurde, warum es also kaufen?“ Zu überlegen, dass jedes materielle Ding ursprünglich von Planet Erde stammt und der Erde entnommener Treibstoff dazu benutzt wurde, es anzufertigen und auszuliefern. Das wäre ein pragmatischer Akt des Wohlwollens und würde gleichzeitig unsere inneren Resourcen stärken. Mit Verzicht – der Freiheit von gewohnheitsmäßigem Konsum – wächst die Kraft in unseren Herzen.
Mit einer Aufmerksamkeit, die auf das Herz gerichtet ist und sich mit den Auswirkungen des Handelns befasst, kann man die halb bewussten Neigungen hinsichtlich ‘Böswilligkeit’ und ‘Grausamkeit’ überprüfen. Dies mag für einen ‘zukünftigen Buddha’ überraschend klingen, so etwas im eigenen Geist zu erleben, aber wir können ohne weiteres die Bösartigkeit in der politischen Domäne beobachten, und die Spaltungen in der Gesellschaft hinsichtlich z.B. Brexit oder Einwanderung. Und wenn wir ermessen, was die Herzen der Menschen verhärtet und grausam sein lässt, dann ist es der Entzug des Mitgefühls, der Empathie und der Fürsorge. Dies ist ein konstanter Trend in der menschlichen Geschichte; Kriege, Kreuzzüge, Sklaverei und Rassismus gründen sich darauf. Können wir nicht unsere Bemühungen verdoppeln, andere Menschen als Brüder und Schwestern bezüglich Altern, Krankheit und Tod zu sehen; als Wesen, die uns von Natur aus ebenbürtig sind und unsere Hilfe und Freundschaft benötigen?
In unserer Meditation können wir mit den ‘unermesslichen’ Zuständen (appamana) in Kontakt kommen: Freundlichkeit, Mitgefühl, Freude am Wohlergehen anderer und dem Gleichmut hinsichtlich der Höhen und Tiefen, der Krankheit und der Trennungen, die uns begegnen werden. Schließlich besitzen wir als Dhamma-Praktizierende die unschätzbare Resource eines geübten Herzens; und jedes neue Dilemma ermutigt uns, dies zu überprüfen und zu schauen, was noch an Training notwendig ist. Denn erinnere dich daran: ‘Was im Weg ist, ist der Weg!’ Die Gelegenheit, Leiden in Befreiung zu transformieren, sollte man wahrnehmen und ausleben.
In allen Gesellschaftsschichten gibt es Menschen, die sich mit einem guten Herz zeigen. Einige Mitglieder der hiesigen, internationalen Klostergemeinschaft in Cittaviveka haben es auf sich genommen, die gefahrvolle Reise nach Hause anzutreten, um sich um ihre älteren Verwandten zu kümmern. Wir empfehlen ebenfalls, dass unsere Unterstützer nach denen Ausschau halten, die größeren Bedarf haben als wir selbst; wir haben keine Kinder und als Entsagende können wir unbeschwert leben. Es ist wunderbar, dass sich in Großbritannien zu Beginn des Notstands pro Sekunde drei Freiwillige als Helfende für den NHS (die nationale Gesundheitsbehörde) zur Verfügung gestellt haben. Im weiteren Umkreis sind Ärzte aus ihrem Ruhestand zurückgekehrt; Hotels haben ihre Türen für Notunterbringungen geöffnet; Getränkeproduzenten haben ihren Alkohol dazu benutzt, kostenlos Desinfektionsgel herzustellen. Virtuelle Treffen unter Dhamma-Praktizierenden wurden bereits organisiert und weitere Dhamma Programme werden jetzt online angeboten (wirf einen Blick auf deine Dhamma-Zentren vor Ort). Wir in Cittaviveka hoffen ebenfalls, mit technologischen Mitteln Dhamma zu präsentieren, da das Kloster zur Zeit leider keine Besucher mehr empfangen kann.
Und zum guten Schluss noch die Ermutigung, in deinem Mitgefühl, deinem Verzicht und deiner Fürsoge auch das Wohlergehen anderer Lebewesen auf diesem Planeten mit einzuschließen. Wie viele müssen wir töten, um uns zu ernähren? (ca. 70 Milliarden auf dem Land lebende Tiere pro Jahr! Anm. d. Übers.) Wie viel Erdoberfläche müssen wir in Viehweiden, Äcker für Futtermittel und Golfkurse verwandeln? Lasst uns nicht vergessen, woher der Corona Virus kam. Nicht auf ‘China’ zu beharren, sondern darauf hinzuweisen, dass es sich bei COVID 19, neben HIV, Ebola, SARS, MERS, und der Schweinegrippe um Viren handelt, die von Krankheitserregern stammen, welche wilde Tiere infizieren (und mit denen diese allerdings gut klarkommen). Wenn die Menschen die letzten Fragmente der Wildnis plündern, die noch bestehen, und die wenigen Tiere töten, die noch übrig sind (nur noch vier Prozent aller Landtiere leben noch wild), dann transmutieren jene Erreger und gehen auf Menschen über. Mit tödlichen Auswirkungen. Ist es nicht an der Zeit, etwas zu lernen? Nicht nur einen neuen Impfstoff zu produzieren (bis der nächste Virus mutiert und wieder die Bevölkerung infiziert), sondern diese unnötige und selbstmörderische Zerstörung der Biosphäre anzuhalten? Es erscheint so, als ob die Wald- und Buschbrände, die Wirbelstürme und Überschwemmungen nicht hart genug zugeschlagen hätten, sondern dass uns jetzt ein wirklich grimmiger Himmelsbote die Botschaft einhämmert. Wir sind Kreaturen dieser Erde: Wenn wir schon nicht Unterstützung anbieten können, so sollten wir wenigstens das gemeinsame Recht auf Leben respektieren.
„Wahrlich, die weise Person neigt nicht zu ihrem eigenen Schaden, noch zum Schaden anderer; auch nicht zum Schaden für beide; und sie erfährt kein … Leid und keine Trauer. Auf diese Weise … ist Nibbana direkt sichtbar, unmittelbar, lädt uns zur Hinwendung und zum direkten Sehen ein, ist anwendungswürdig, um von Weisen individuell erfahren zu werden. (A.3:55)
Vor allem ist es jetzt an der Zeit, sich der Meditation zu widmen. Die Geschicklichkeit diesbezüglich liegt nicht darin, Angst zu verleugnen, sondern das Gewahrsein im Körper zu verankern; dann ermutigt man es dazu, über die Angst hinauszuwachsen. Und genau daraus gewinnt das Herz des Mitgefühls eine sehr gute Erdung.
Englische Originalversion: